Holzwurmsiedlung? Vorort Jerusalems? Im Stuttgarter Norden tauchst du tief ein in die Architekturgeschichte Stuttgarts und entdeckst dabei, wie die Idee des modernen Wohnens von berühmten Architekten und Architektinnen jeweils komplett anders interpretiert wurde. Ob internationale Weissenhofsiedlung oder verstecktes Birkendörfle, Maxi-Schwarzwaldhaus oder Mini-US-Bungalow: Diese Häusle überraschen!
Skandalös! Oder doch visionär? Die Weissenhofsiedlung sorgte 1927 für Furore. Zur Ausstellung „Die Wohnung“ entwarfen 17 (inter)national bekannte Architekten die „Mustersiedlung für den modernen Großstadtmenschen“. In 21 Wochen Bauzeit entstanden 21 Musterhäuser. Was sich Walter Gropius, Mies van der Rohe, Le Corbusier und andere Koryphäen ihres Fachs unter „zeitgemäßem Wohnen“ vorstellten, löste Schock und Begeisterung aus. Im Kontrast zum traditionellen Baustil stachen helle, kubische Neubauten mit Flachdächern, Dachterrassen, flexiblen Grundrissen und funktionaler Möblierung ins Auge. Als „Vorstadt Jerusalems“ und „Araberdorf“ verspottet, planten die Nationalsozialisten den Abriss der „undeutschen“ Siedlung. Durch den Weltkrieg wurde das Vorhaben zwar gestoppt, zehn Gebäude fielen jedoch den Bomben zum Opfer. Die elf übrigen stehen seit 1949 unter Denkmalschutz. Der Bummel durch die Siedlung ist ebenso kostenlos wie der Besuch der Architekturgalerie im Peter-Behrens-Haus. Im Doppelhaus von Le Corbusier – seit 2016 UNESCO-Weltkulturerbe – ist das Museum der Weissenhofsiedlung untergebracht. Die linke Haushälfte beherbergt eine Ausstellung zur Siedlung. In der rechten Haushälfte können Fans den revolutionären Wohnideen nachspüren.
Weissenhof versus Kochenhof: Auf dem Killesberg fand einst ein wahres Architektur-Battle statt. 1932 plante der Deutsche Werkbund eine Mustersiedlung, um die deutsche Holzwirtschaft zu stärken. Richard Döcker, Bauleiter der Weissenhofsiedlung von 1927, wurde dafür auch mit der Projektleitung der Kochenhofsiedlung betraut. Sein Plan sah innovative Bauten vor, doch mit dem politischen Kurswechsel wurde ihm die Aufgabe wieder entzogen. Unter Paul Schmitthenner entstand schließlich das offensichtliche Gegenmodell zur Weissenhofsiedlung, keine 500 Meter von ihr entfernt. Die 23 beteiligten regionalen Architekten, darunter Repräsentanten der Stuttgarter Schule wie Paul Bonatz und dessen Studenten, orientierten sich am biederen Ideal von „Goethes Gartenhaus“ und bauten 25 Häuser, 3 davon baute Schmitthenner selbst. Mit Satteldach, Sprossenfenstern und Holz als Baumaterial grenzten sich die Kochenhof-Häuser klar von den modernen Weissßenhof-Würfeln ab. Der Spitzname „Holzwurmsiedlung“ kam auf. Wenn auch viele Gebäude nicht im Originalzustand erhalten geblieben sind, vermitteln jene in der Hermann-Pleuer-Straße 8, im Carlos-Grethe-Weg 3 und 7 noch einen Eindruck des ehemaligen Erscheinungsbilds.
Die Viergiebelsiedlung sollte der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg entgegenwirken. Zwischen 1922 und 1926 entstanden 16 Einfamilien- und fünf Doppelhäuser, die dem Gelände der Birkenwaldstraße folgten. Der Architekt Richard Döcker und der städtische Baurat Hugo Keuerleber planten eine Siedlung, deren Baukörper viel moderner wirkten als die behäbigen Häuser „im Heimatstil“. Döckers Ziel waren „einfache Häuser zum Wohnen, ohne Geste, ohne Pathos, bescheiden und anspruchslos, sachlich und zweckdienlich“. Zwar arbeitete er mit traditionellem Satteldach, Sprossenfenster und Klappladen, doch die Kuben ohne Dachvorsprünge kündigten bereits die Weissenhofsiedlung von 1927 an. Das Farbkonzept sticht ins Auge: Jede Wand erhielt je nach Himmelsrichtung eine andere Farbe, die Töne nahmen im Straßenverlauf zu oder ab. Schattenseiten waren etwa mit kühleren Grün- bis Blautönen, Sonnenseiten mit wärmeren Gelb- bis Ockertönen gestrichen. Seit 2002 achtet der Denkmalschutz darauf, dass diese ehemalige Farbgestaltung von den Eigentümern wiederhergestellt wird.
Stuttgart presents… the Diplomatensiedlung from 1955/56, eine der ersten deutschen Bungalow-Siedlungen. Sie wurde von Werner Gabriel für Beschäftigte des US-amerikanischen Konsulats entworfen. Unauffällig bettete der Architekt die zwölf Häuser in ein parkartiges, leicht hügeliges Grundstück neben der Feuerbacher Heide. Als charakteristisch erweisen sich die würfelförmigen Häuschen mit L-förmigem Grundriss und Terrasse, die sich in Struktur, Gestaltung und Farbgebung an amerikanischen Vorbildern orientieren und gleichzeitig die Ideen des Neuen Bauens weiterdenken. Die eingeschossigen Flachdachbauten sind versetzt in zwei offenen Reihen organisiert; je zwei, drei oder vier Bauten sind miteinander verbunden. Dem damaligen Ideal einer verkehrsgerechten Stadt zum Trotz erschließen nur schmale Fußwege die Häuser; Parkplätze und Wäschetrockenplätze wurden an den Siedlungsrand verbannt.
Rein in die Sackgasse, das Birkendörfle ruft! Wegen seiner vermögenden Bewohnenden wurde es auch „Baronenviertel“ genannt. In Wirklichkeit hat die kleine Siedlung ihren Namen von einem Birkenwäldchen, das dem Gebiet bereists 1466 seinen Flurnamen gab. Versteckt am Hang eines ehemaligen Steinbruchs, wird es durch den Weinberg der Mönchhalde begrenzt. Beim Bau der Siedlung zwischen 1907 und 1911 orientierte sich der renommierte Architekt Karl Hengerer am Landhausstil. In Zusammenarbeit mit dem Bankier Eduard Pfeiffer hatte er bereits Großprojekte wie die Siedlungen Ostheim, Südheim und die Sanierung der Altstadt durchgeführt. Walmdächer, Bretterverschalung, Erker, Dachgauben, offene Veranden: Die mächtigen drei- bis vierstöckigen Häuser weisen typische Merkmale von Schwarzwaldhäusern auf. Um sie nach der Sonne auszurichten, platzierte Hengerer sie unregelmäßig mal parallel, mal senkrecht zum Hang und löste sich damit von der städtischen Norm. Durch Umbauten und Kriegszerstörungen hat sich das Erscheinungsbild der Birkendörfles verändert; unter Denkmalschutz steht heute noch das Haus Nummer 11.
Die Internationale Gartenbauausstellung 1993, die sich mit dem „Umgang mit der Natur in der Stadt“ befasste, hat im Stuttgarter Norden viele Spuren hinterlassen. So präsentierten 13 Architektenteams aus zehn europäischen Ländern zwischen Nordbahnhof und Leibfriedschen Garten mit „Wohnen Expo 2000“ ihre „Vorbildsiedlung in einer benachteiligten Lage“. Ein Areal mit 17 Reihenhäusern und zwei Wohnungen widmete sich in der Sarweystraße 40-76 den „neuen Energiekonzepten“. Es entstand ein autoloses Wohngebiet mit Häusern, die nach den Herkunftsländern der Architektenteams benannt wurden. Der nachhaltige Gedanke zieht sich durch begrünte Atrien, Treppenhäuser, Wintergärten und bepflanzte Dachterrassen sowie Solarzellen oder Glasfassaden als zusätzlicher Schallschutz. Besonders die Österreichhäuser stechen heraus: Sie erinnern an einen überdimensionalen Strandkorb! Das zweite Gebiet umfasst sieben Mehrfamilienhäuser mit ca. 100 Mietwohnungen in der Störzbachstraße 11-27. Sie liegen direkt an der Bahnstrecke, weshalb man neben flexiblen Grundrissen und kommunikativen Wohnformen vor allem den Lärmschutz erforschte. Am ersten und letzten Haus der Reihe finden sich Anklänge an Le Corbusiers Bauten, etwa die Glasbausteine der Wintergärten oder die vorkragenden Mini-Balkone an den Seiten.
In den 1880er Jahren entstand am heutigen Nordbahnhof ein Güterbahnhof. Bereits 1892 beschloss die Königliche Eisenbahnverwaltung, in direkter Nachbarschaft für ihre Bediensteten das Eisenbahnerdörfle zu bauen. Die ersten Bauten befanden sich an der heutigen Nordbahnhofstraße. Bis 1912 wurden hier mehr als 100 mehrgeschossige Häuser gebaut, in denen über 890 Familien mit fast 4.000 Personen untergebracht wurden. In den zweifarbigen Backsteinbauten waren an den Ecken Ladengeschäfte eingebaut. Die Wohnungen hatten separate Küchen, Speisekammern und eigene Toiletten – für damalige Arbeiterwohnungen höchst modern! Zum Baden ging es in die öffentliche Badeanstalt, deren Nutzung für die Eisenbahner kostenlos war. Ihre Angehörigen mussten am Fahrkartenschalter des Nordbahnhofs eine Badekarte erwerben. In den Höfen befanden sich Waschhäuser, diese sind zum Teil noch heute vorhanden. Auch die Pragschule, ein Betsaal und eine Kindergrippe wurden zu dieser Zeit eingeweiht. Insgesamt wohnten im Gebiet von Bahnhofstraße, Post- und Eisenbahnerdörfle 1901 rund 10.900 Personen. Durch eine Milieuschutzsatzung (durch die Stadt Stuttgart, 2013) wird die Siedlung vor Gentrifizierung durch Luxussanierungen bewahrt.
Auf der Heilbronner Straße sticht – wow! – ein stolzes Backsteingebäude hervor. Heute hat sich darin das schicke „Arcotel Camino“ niedergelassen. Einst gehörte das mächtige Ensemble zur ersten Arbeitersiedlung der Stadt: Das „Postdörfle“ wurde von 1869 bis 1871 für die Post- und Bahnangestellten gebaut und auf sieben Terrassen eines ehemaligen Weinbergs errichtet. Die Mitte der Anlage bildete die Straße „Im Kaisemer“, von der aus 37 Wohngebäude links und rechts den Hang hinauf erschlossen wurden. Rund 1.000 Einwohner:innen waren hier in 214 Wohnungen zuhause. Für Arbeiterunterkünfte waren die Fassaden im Renaissancestil reich verziert. Gemeinschaftseinrichtungen wie eine Kantine, eine Kinderkrippe sowie eine Bade- und Waschanstalt waren ebenfalls vorhanden. Den Krieg überstanden nur die zwei Gebäude direkt an der Heilbronner Straße. Das „Arcotel Camino“ befindet sich in der ehemaligen Bade- und Speiseanstalt und in dem Waschhaus der Anlage. Die denkmalgeschützten Fassaden wurden 2007 in den Hotelkomplex integriert, wobei die Struktur des „Postdörfles“ bei der Neubebauung beibehalten werden konnte. Zwischen den Gebäuden prangt nun die moderne Lobby des Hotels. Ein Blick ins Innere lohnt sich: Die Treppe im Foyer ist der Freitreppe des „Postdörfles“ nachempfunden.