Häuschen flirten mit Brücken, Bunker werden zu Wohnheimen, Gleise erinnern an dunkle Zeiten. Je tiefer du in den Nord-Bezirk eintauchst, desto mehr Fragen häufen sich: Wieso trifft man hier überall auf Prag? Weshalb befindet sich der Mönch in der -halde? Was haben die Doggen mit der -burg zu tun?
Täglich rattern die Züge der Gäubahnstrecke über ihre spitzen Satteldächer hinweg. Unbeeindruckt hocken drei Häuschen direkt unter dem Viadukt an der Rosensteinstraße. Zwei Stockwerke, 80 Quadratmeter Wohnfläche, Jägerzaun und Garten: Idyllisch lebt es sich hier unter der Brücke, aber auch laut. Früher standen die Gebäude zu viert, eines brannte ab. Aufgrund ihrer Baugeschichte stehen Brücke und „Drillinge“ inzwischen unter besonderem Schutz. Wer war wohl zuerst da? Es war die Eisenbahnbrücke, sie wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Ihre „Untermieter“ ließen sich in den 1950er Jahren unter den Viaduktbögen nieder. In einer Zeit des Wohnraummangels entstanden sie als Musterbauten des „Platzsparenden Wohnens“.
Picknick, Tierspaß, Blumenfreuden: Der Killesbergpark ist ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Leicht schlendert man an den Stätten vorbei, die an dunkle Stunden des Höhenparks erinnern. Dieser wurde ursprünglich für die Reichsgartenschau 1939 angelegt, die mit dem Krieg abrupt endete. 1941 funktionierte man den Park zum Sammelpunkt zur Deportation von mehr als 2.500 Juden, Roma und Sinti aus Württemberg und Hohenzollern um. Nach Kontrollen schickte man die Gefangenen zum Inneren Nordbahnhof, wo sie per Zug nach Riga, Auschwitz oder Theresienstadt deportiert wurden. An dieses dunkle Kapitel der Geschichte erinnert heute ein Stahlkreis am Eingang des Parks. Mit einer Fläche von 2.000 Quadratmetern verweist er auf die Zahl der deportierten Menschen. Gedenksteine daneben künden von dem grausigen Geschehen. Am Inneren Nordbahnhof wurde das „Zeichen der Erinnerung“ eingerichtet. Die Gedenkstätte umfasst Bahngleise, von denen die Fahrten in den sicheren Tod starteten. Auf der Mauer entlang des Mahnmals sind die Namen der deportierten Menschen zu lesen.
Zehntausende Autos fahren täglich an ihm vorbei. Am Pragsattel ist der Bau mit der Leuchtreklame und den Werbeschriftzügen nicht zu übersehen. Stuttgarts „größte Litfaßsäule“ wurde 1942 als Hochbunker erbaut und mit Flakgeschützen ausgestattet. Nach dem Krieg mangelte es in Stuttgart an Wohnraum, so dass der 30 Meter hohe Pragbunker zum Männerwohnheim umgebaut wurde. In den 60er Jahren setzte man ihn für den Zivilschutz wieder instand. Mit dem Ende des Kalten Kriegs erhielt er seine dritte Funktion als Funkmast für Straßenbahnen sowie als Werbeträger. Fun Fact Nr. 1: In der Wüste von Nevada soll der Pragbunker auf einem Atombomben-Testgelände nachgebaut worden sein. Fun Fact Nr. 2: Während der Inbetriebnahme einer Videowand flimmerte 2011 nachts ein Sexfilm am Pragbunker. Techniker hatten ihn aus Scherz in die Software eingespeist.
„Auf der Prag“ nennt sich das Viertel, in dem das Eisenbahnerdörfle seinen Platz gefunden hat. Pragfriedhof, Pragstraße, Pragsattel. Was hat Stuttgart mit der tschechischen Hauptstadt zu tun? Namenstechnisch: nichts. Auf einer älteren Karte wird das Gebiet als „brag“ bezeichnet, was eine Verbindung zur landwirtschaftlichen „Brache“ nahelegt. Außerhalb der Stadtmauern gelegen, war „die Prag“ schließlich jahrhundertelang Grenz-, Acker- und Brachland. Die erste urkundliche Erwähnung spricht 1292 im Zusammenhang des Prag-Passes, dem heutigen Pragsattel, von „Bri et Brage“. Der über 2.000 alte Verkehrsknoten vereinigte bereits zur Römerzeit die Wege aus Westen und Nordwesten und führte zum Cannstatter Kastell. Daran schloss später die Ludwigsburger Straße an, lange Zeit Stuttgarts „Nabelschnur“ nach Norden. Von ihr ist nur ein Abschnitt erhalten: die Nordbahnhofstraße.
Typisch Stuttgart: Hier wächst der Wein sogar in den Innenstadtbezirken. Von der „Aussichtsplattform Birkenwaldstraße“ hast du die Weinlage der Mönchhalde besonders gut im Blick. Sie ist über 800 Jahre alt, gehörte einst zum Kloster Bebenhausen – deshalb der Name – und ist heute im Besitz des Weinguts der Stadt. Bis heute erinnern im Stuttgarter Norden die Straßennamen an den historischen Bezug zu Wein und Klöstern. „Im Kaisemer“ weist etwa darauf hin, dass sich in dieser Lage die Weinberge des Klosters Kaisheim befanden. Begüterte Familien wie die Eckart (Eckartshalde), Dietmar (Diemershalde), Wolfram (Wolframshalde) hatten im Stuttgarter Norden ebenfalls ihre Weingüter. Auch die Gebiete am Kriegsberg, Gähkopf, Relenberg und an der „Hohen Prag“ waren ursprünglich reichlich mit Reben bestockt. Nach 1491 wurden in der Mönchhalde 62 Morgen Wald verkauft, so dass Weinberge angelegt werden konnten. Zuletzt wurde im 17. Jahrhundert der Birkenwald gerodet. An diesen erinnert heute – logisch! – die Birkenwaldstraße.
Zimmermeister Johannes Nill hielt im 19. Jahrhundert auf seinem Betriebsgelände am Herdweg heimische Tiere wie Rehe, Hirsche und Füchse. Nachdem diese immer mehr Neugierige anzogen, richtete der Tierliebhaber 1868 in seinem Wohnhaus das Lokal „Zum Hirschgarten“ ein. Als der „Affenwerner“ starb, der in der Sophienstraße eine private Tierschau unterhielt, kaufte Nill die meisten Tiere auf. Unterstützt von Gönnern, darunter auch der König, entstand 1871 „Nills Tiergarten“. In dem noch unbewohnten Dreieck zwischen Herdweg, Wiederhold- und Azenbergstraße wurde Stuttgarts erster richtiger Zoo systematisch ausgebaut. Über 500 Tiere tummelten sich auf dem Areal, das auch einen Bärengraben und Gehege für Löwen, Elefanten und Giraffen enthielt. Während der Industrialisierung wuchs die Stadt näher an den Zoo heran, was 1906 zu seiner Schließung führte. Einige Tiere zogen auf die Feuerbacher Heide um, wo die Tiergartentradition in bescheidener Form bis 1942 weitergeführt wurde. Hier hatte sich aus einer Doggen-Züchterei für württembergische Jagdhunde das Ausflugslokal „Zur Doggenburg“ entwickelt.
Er plätschert als Blickfang am Fuß des Wartbergs. Der Egelsee wurde zur Internationalen Gartenbauausstellung 1993 künstlich angelegt. An ihn schließt sich eine Reihe kleinerer Seen an, wegen ihrer Form auch „Krebsschwanz“ genannt. Der Egelsee selbst erhielt seinen Namen in Anlehnung an einen gleichnamigen älteren See. Dieser befand sich in der Nähe, in einem sumpfigen Gelände an der Prag. Hier sammelten die Stuttgarter und Stuttgarterinnen einst ihre Blutegel ein, um sie gegen Herzinfarkt und sonstige Gebrechen einzusetzen. Im neuen Egelsee ist von Blutegeln keine Spur. Das Gewässer wird vielmehr für seine geometrischen Fontänen und Wasserspiele geschätzt.
Wer die Fernbedienung für den Fernseher in der Hand hält, hat das Sagen. Denkste! Nicht bei Nam June Paik. Der koreanische Künstler gilt als Pionier der Videokunst. Seine Werke wurden von Museen in aller Welt angekauft. Die „Two-Way-Communication“ von 1996 ist vermutlich seine einzige Arbeit im öffentlichen Raum; am Weissenhof im Neubau 2 der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart ist es zu bewundern. 92 Fernsehapparate sind im Foyer treppenartig aufsteigend über einem schwarzen Sockel an der Wand montiert. Manche lösen sich aus dem Ensemble, als würden sie nach oben schweben beziehungsweise nach unten sinken. Die Multimonitorinstallation kann über den Player im Sockel mit Videodiscs der Filme „Robotklavier“, „Binary“ und „Frankenstein“ bespielt werden – oder mit Livebildern aus den Überwachungskameras im Foyer. So erklärt sich auch die „Two-Way-Communication“: Die Beobachteten beobachten sich selbst. Der „Paik“, wie er in der Kunstakademie genannt wird, wurde 2018 aufwendig restauriert.