Jugendstil-sicher geht es hinter den Mauern des Pragfriedhofs zu. Mit Neuer Sachlichkeit brilliert die Weissenhofsiedlung aus den 20er Jahren. Die Villen am Hang zeigen sich wankelmütig. Mal verfolgen sie den Internationalen Stil, mal liebäugeln sie mit der Stuttgarter Schule. Währenddessen schwingt im Park die Milchbar aus den 50er Jahren ihre Hüfte.
Holzwurmsiedlung? Vorort Jerusalems? Im Stuttgarter Norden tauchst du tief ein in die Architekturgeschichte Stuttgarts und entdeckst dabei, wie die Idee des modernen Wohnens von berühmten Architekten und Architektinnen jeweils komplett anders interpretiert wurde. Ob internationale Weissenhofsiedlung oder verstecktes Birkendörfle, Maxi-Schwarzwaldhaus oder Mini-US-Bungalow: Diese Häusle überraschen!
Am Bismarckturm, entlang der Lenzhalde und Feuerbacher Heide, in der Eduard-Pfeiffer-, Robert-Bosch- und Schottstraße… überall Villen, nichts als Villen! Die ersten wurden ab dem 19. Jahrhundert am Nordhang errichtet. Startpunkt: Kriegsbergstraße. Nach und nach eroberten sie den Berg. Die Bebauung der Hochfläche begann schließlich vor dem Ersten Weltkrieg. Bis 1920 wurde eher im repräsentativen Stil mit traditionellem Werkstein gebaut. Die Phase nach dem Krieg prägte die „Stuttgarter Schule“, deren führenden Köpfe Paul Bonatz und Paul Schmitthenner fast alle großbürgerlichen Häuser um den Bismarckturm schufen. So etwa die Villa Roser im Feuerbacher Weg 51, die mit kubischer Form und Walmdach Goethes Gartenhaus in Weimar ähnelt – Schmitthenners Ideal eines traditionellen Wohnhauses. Am Nordhang hat sich natürlich auch die architektonische Bewegung verewigt, die mit dem „Internationalen Stil“ experimentierte. Neben der Weissenhofsiedlung zählen dazu etwa die Häuser oberhalb der Birkenwaldstraße, die von Richard Döcker, dem Bauleiter der Weissenhofsiedlung, erschaffen wurden.
Im Killesbergpark weht „Weltwirtschaftsflair“ über den Flamingoteich. Dafür sorgt die denkmalgeschützte Milchbar in direkter Nachbarschaft. Der filigrane Pavillon wurde 1950 in Rekordgeschwindigkeit anlässlich der Wiedereröffnung des kriegszerstörten Parks gebaut. Drei Tage sollen dem Stuttgarter Architekten Ralf Gutbrod zur Planung, sechs Wochen zur Ausführung des Baus zur Verfügung gestanden haben. Die modernen Elemente stechen ins Auge: Eine geschwungene Treppe führt zur vollverglasten Fassade mit blauen Stahlstreben. Darüber ragt das leichte Dach asymmetrisch über die Terrasse. Gleichzeitig schuf Gutbrod, dem später auch die Liederhalle zu verdanken war, mit dem Mauerwerk aus regionalem Sandstein Bezüge zu den Ausstellungsbauten von 1939. In ihrer Form zeigt die Milchbar Hüftschwung. Die versetzten Ebenen betten sie in die Hanglage ein und eröffnen eine Sicht auf die Parklandschaft. Da schauen nicht nur die Flamingos! In der Milchbar werden auch regelmäßig Firmenfeiern, Hochzeiten und Schlagerpartys gefeiert.
Zugegeben: Friedhöfe sind nicht das Ausflugsziel Nummer 1. Der Pragfriedhof beherbergt aber nicht nur letzte Ruhestätten, sondern interessante Architektur. So lohnt sich ein Blick auf das Krematorium mit seiner Jugendstilhalle von 1907. Heute ist der städtische Zentralfriedhof von Stadt und Gleisen umgeben, bei seiner Einweihung 1873 lag er allerdings vor den Stadttoren auf den nördlichen Äckern inmitten einer brachliegenden Landschaft. Am 14. Januar 1873 wurde hier Christine Fritz begraben, „die erste Leiche dieses Friedhofs“, wie es auf ihrem Grabstein steht. Bestattet wurden auf dem Pragfriedhof auch Persönlichkeiten wie der Vater der Luftschifffahrt, Ferdinand von Zeppelin, der Maler Willi Baumeister und die Opernsängerin Anna Sutter. Die Grande Dame der damaligen Stuttgarter Kulturszene wurde ermordet – von einem ihrer Liebhaber, dem Hofkapellmeister Aloys Obrist. 10.000 Stuttgarter und Stuttgarterinnen sollen 1910 am Begräbnis der Operndiva teilgenommen haben.